Modern = gut = schön


Ich sitze am Schreibtisch zu hause und überlege mir die einleitenden Zeilen zu diesem Kapitel. Das Licht ist jeden Tag etwas anders und so fallen mir jedesmal andere Dinge auf. Heute ist es klarer und links am Pentadaktylos leuchten die felsigen Abhänge und heben sich deutlicher als sonst vom dunklen Hintergrund ab. Und nicht zum ersten mal, aber stärker als sonst fällt mir der dunkelgrüne Streifen auf, der sich am Fuße des Gebirges entlangzieht bis er in der Ferne mit dem Hügel von Karpassos im Dunst verschmilzt. Das ist das Grün, das jetzt, nach den ersten zwei stärkeren Regenfällen aus der grau-braunen Todesstarre hervorbricht.

Diese Jahreszeit ist gefährlich für mich. Wenn wir auf der Autobahn unterwegs sind und meine Frau, die den Wagen fährt, weil ich Autos hasse und nie einen Führerschein gemacht habe, plötzlich laut ausruft: "Oh, Sieh! Wie grün es ist!" Tatsächlich liegen Flecken von Grünschimmer verstreut über der Landschaft, so fremd nach dem monatelangen Einheitston braun, daß das Auge sich anscheinend zunächst weigert, das überhaupt als Tatsache wahrzunehmen.

Manchmal - im Bett oder im Lesesaal - gehen mir so manche schönen Landschaften durch den Kopf, die ich irgendwo auf der Welt gesehen habe. Und diejenige, die mir bei dieser Gelegenheit einfällt, sind die steinigen Bachläufe, mit ein wenig Gras zwischen den Ufersteinen, gesäumt von den sanft rauschenden Pappeln. Diese Bach-, manchmal auch Flußläufe, wie man sie in den steinigen Landschaften Anatoliens, Azerbaydschans und Nord-Afghanistans finden, sind mir dort immer als wahre Paradiese erschienen. Es kann nicht nur eines geben, weil das den Menschen gar nicht gerecht werden könnte.

Hier ist allerdings keines. Und dieser grüne Schimmer ist zu schwach, um die Hitze des Sommers und des Herbstes vergessen zu lassen. In Nikosia steigen die Temperaturen im Juli bis auf 45°, während es an der Küste einige Grad darunter bleibt, dafür aber die Nächte schwül sind. Ende Mai halte ich es schon nicht mehr aus. Dann werden noch die Prüfungen abgenommen und schon bin ich auf der Flucht, die mich jeden Sommer bis nach Grönland führt. Aber meine Kollegen, die sich darüber lustig machen haben unrecht, wenn sie meinen, daß ich mich ins andere klimatische Extrem flüchte. Vielmehr sind es die Ruhe der Landschaft und der Menschen, die mich dorthin ziehen.

Wenn ich im Mai oder nach der Sommerpause auch noch Ende September aus dem Büro komme, muß ich mich erst einmal hinlegen. Alle Fenster, sowie die Wohnungstür bleiben offen, bis so kurz vor Mitternacht eine Temperatur erreicht ist, bei der man einschlafen kann. Wer etwas höher wohnt, sieht auf verschiedenen Ebenen auf Dächern und Balkons Menschen auf ihren Betten liegen, um der Hitze zu entgehen, die die Wände die ganze Nacht ausstrahlen.

Und meist irgendwann im Oktober gibt es dann, nachdem es sich mehrfach scheu oder hinterlistig angekündigt und dann doch wieder zurückgezogen hat, ein Gewitter, das einen ersten Regen mit sich bringt, der manchmal heftiger ausfällt, als die Städtebauer Zyperns berücksichtigt haben. Einmal wurde ich auf dem Rückweg vom Zeitungskauf am Eleftheria-Square von einem Schauer überrascht; schon auf der Hälfte des Weges konnte man nicht mehr ausmachen, wie tief unter der Wasseroberfläche die Straßendecke lag. Von einem der seltenen Bürgersteige aus tastete ich mit einem Fuß nach der Straße und stand plötzlich bis kurz unter dem Knie im rauschenden Bach. Was soll's. Schließlich muß man ja nach hause. Befindet man sich im Auto, kann man bei solch einem Guß schnell das Gefühl bekommen, daß man eher eine Bootsfahrt macht, nur daß die Straßen Nikosias stärker befahren sind, als der Rhein.

Aber nicht nur in Nikosia ist das so. Wenn Familienmitglieder mich besuchen kommen, bleiben sie in einem Hotel am Meer, denn Nikosia ist wahrscheinlich kein Ferienort. So erlebten meine Mutter, Schwestern und Schwager einst in Paphos einen nach mitteleuropäischen Maßstäben ganz durchschnittlichen Regenschauer, der sich aber in Kato Paphos, also dem höher gelegenen Ortsteil, im Nu in den zum Meer hinunterführenden Straßen in Sturzbäche verwandelte, vor denen man sich auf Treppen oder anderen Erhebungen in Sicherheit bringen sollte. Das ist nicht übertrieben. Ich erinnere mich an den letzten Herbst, als ein Autofahrer außerhalb von Nikosia sich aus dem versinkenden Auto rettete, sich eine Zeit lang an einem Verkehrsschild festhalten konnte und dann - nach Augenzeugenberichten - hinfortgespült wurde und nicht mehr gesehen war. Ich habe die Suchaktion damals nicht zuende verfolgt und weiß nicht, ob seine Leiche je gefunden wurde. Insgesamt ist des Rätsels lösung die auf der Insel fehlende Kanalisation. Bei vier bis fünf Regenfällen im Jahr hielt man sie für überflüssig, ohne offenbar darauf vorbereitet zu sein, daß eine so große Fläche innerhalb weniger Jahre zugebaut und versiegelt sein würde, daß das Wasser nicht weiß wohin.

Wenn es nicht regnet, was - wie gesagt - der Normalfall ist, die Sonne nicht mehr zu stark ist und längere Schatten wirft, kann man es wagen, sich mal dem Drängen der Frau zu beugen und einen Schaufensterbummel mitzumachen. Eine Freude wird es in keinem Fall, wenn er außerhalb der Altstadt stattfindet. Da kommt eigentlich nur eine einzige Straße in Frage mit ein paar wenigen kurzen Seitenstraßen.

Kommt man mit dem Wagen von der Autobahn und fährt geradeaus weiter, heißt diese Straße Makarios III Avenue. Zunächst einmal fallen am abrupten Beginn der Stadt die modernen Renommierhochhäuser auf, in fantasievoller, aufwendiger Architektur, wie man ihr u.a. in den Golfstaaten begegnet.

Daneben gibt es eine riesige abstrakte Skulptur, die irgendetwas symbolisieren soll und außerdem bis hierhin einen schmucken Grünstreifen. Solchermaßen eingestimmt auf die Metropole eines modernen, aufstrebenden, westlichen Staates, hält die Blendung eine zeitlang an. Man merkt kaum, daß die Gebäude sehr viel einfallsloser, eben nur noch Betonkästen sind. Getäuscht wird man vor allem von den großen Schaufenstern, den großen Reklameschildern und Namenzügen, und dann den Namen, die hier hauptsächlich diejenigen bekannter Fluglinien und Autofirmen sind. Aber dann fällt auf, daß es keine Menschen auf den Bürgersteigen gibt, wer geht in all diese glitzernden Büros außer morgens die Angestellten? Lebhaft ist nur der Verkehr, die Autos, die sich teils in halsbrecherischem Tempo hinab in die Innenstadt stürzen, plötzlich nach rechts ausscheren, weil links am Straßenrand verbotenerweise ein Wagen parkt oder blitzartig, ohne ein Zeichen zu geben weit nach rechts rüberzieht, die Chance nutzen, daß es für einen Moment keinen Gegenverkehr gibt und so in eine Seitenstraße abbiegen kann. Alles weitgehend ohne Ampel, dafür mit umsomehr Gehupe, dann ist man langsam auf das echte Nikosia eingestimmt.

Sobald man unten auf der Ebene angekommen ist, auf der der ältere Teil von Nikosia liegt und hat die Santa Rosa überquert, beginnt sogleich der belebte Teil der Makarios III. Den Anfang macht das erste Gebäude auf der rechten Seite: Woolworth. Hier nicht die Fundgrube von billigem Ramsch, sondern Bedarf für den gehobenen Geschmack. Das verwundert zunächst den Fremdling, ist aber Erklärung dafür, daß das ganze Viertel den Namen dieses Kaufhauses trägt. Als ich noch in dieser kleinen Heras-Street wohnte, die kaum jemand kannte, brauchte ich nur hinzusetzen: Nähe Woolworth, und wissendes Lächeln machte sich auf dem Gesicht des Gesprächspartners breit.

So reiht sich Markenname an Markenname die ganze Makarios III entlang; hier wird flaniert, es reiht sich Auto an Auto, es stinkt bestialisch, die Augen tränen von den Abgasen, und vor den Cafés sitzen - lärm- und gestankimmun - Jugendliche in modernstem Chic, jeder und jede mit einem Handy auf dem Tisch, und lassen sich bewundern, was in den vorbeifahrenden Autos die Herren mit dem Autotelefon am Ohr bei einem ganz wichtigen Gespräch ebenfalls tun. Zypern hält bei den Mobilfonen in der Welt einen der Spitzenplätze ein, was sicher auch mit dieser geographisch so beschränkten Welt zusammenhängt, die von bewußter lebenden Menschen tatsächlich als Isolation empfunden wird.
Dieses ununterbrochenen Aufsichselbstgeworfensein führt zu ständiger Nabelschau, was sich auch darin ausdrückt, daß tagtäglich zwei Themen die Titelseiten versorgen, die Lösung des Zypernproblems und der ebenfalls zur Zwanghaftigkeit gewordene EU-Beitritt. Ausnahmen gibt es nur im Falle besonders schwerer Verbrechen, wenn wie z.B. ein Bandenkrieg die Unterwelt dezimiert oder eine ganze Polizeistation dem Vorwurf systematischer Folterung ausgesetzt ist, wie jetzt in Limassol. Es gilt durch Zeugenaussagen und ärztliche Gutachten nahezu als gesichert, daß mindestens zwölf namentlich bekannte Polizisten Verdächtige an den Füßen aufgehängt, gequält und mit Knüppeln bewußtlos geschlagen haben. Die vorgesetzten Behörden sind sich nicht so einig, ob das überhaupt, und wenn ja, welche Konsequenzen haben soll. Im Radio äußerte sich in einem Interview ein Polizist empört über die Beschwerden und fragte, ob sie denn die Verdächtigen statt dessen etwa zum Kaffee einladen sollten. Manchmal darf man einfach nicht mehr hinhören um in solchen Momenten einem plötzlichen Herzstillstand vorzubeugen. Dann hilft ein Schaufensterbummel immer noch, um sich abzulenken, und sei es auf der Makarios III.

Aber auch die verlassen wir jetzt, diese Straße der Selbstdarsteller und biegen rechts in die Evagoras-Street ein, die ebenfalls von einigen größeren Schaufenstern gesäumt wird, aber schon nach ein paar Schritten an der Kreuzung mit Homer- links und Stasinosavenue rechts ihren Namen aufgibt und jenseits der Kreuzung in den oben genannten Eleftheria-Square übergeht, der sich seinerseits in nördlicher Richtung in die Ledra-Street und Onasagoras Phaneromeni verzweigt, von denen die erste links, die zweite rechts, nicht ganz parallel auf die Grüne Linie zulaufen. Beide Straßen sind Fußgängerzonen und als Flaniermeile wesentlich angenehmer, jedoch in der Altstadt gelegen und somit nur von recht niedrigen Häusern mit kleineren Schaufenstern gesäumt, die jedoch auch die den Europäern vertrauten Markennamen tragen.

Der Grund dafür, daß die Ledra so viel mehr Flanierer aufweist ist mir nicht so recht klar. Bei den Fremden könnte es daran liegen, daß sie die kürzere Strecke zur Straßensperre der "Green Line" ist. Vom Eleftheria-Platz sind es nur fünf Minuten geradeaus, bei guter Sicht immer die Flagge Nord-Zyperns vor Augen. Dann, etwa nach drei Vierteln des Wegs, sinkt, perspektif bedingt, die Flagge hinter die Absperrung, die einzig "ordentliche", nicht mehr provisorische, mit einer Treppe, die zu einer Aussichtsplattform hinaufführt, auf der sich immer ein Soldat befindet, der auch vor der Linse strammsteht, wenn man ihn darum bittet. Zu einem Museum und Mahnmal ausgebaut, ist dies die einzige Straßensperre, an der fotografiert werden darf.

Seit einigen Wochen - die Aufstellung habe ich nicht mitbekommen - steht vor der Sperre in große, abstrakte Skulptur, die die Teilung der Stadt symbolisiert, und auf dem ersten der verfallenden Gebäude zur rechten Seite der Absperrung verkündet eine mehrsprachige Aufschrift, daß man sich in der letzten geteilten Hauptstadt der Welt befindet. Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß hier Tourismuswerbung betrieben wird. In eben diesem Gebäude, direkt neben der Treppe, die zu der Plattform hochführt, ist ein stets offener Raum, in dem ein Schreibtisch steht, auf dem ein Buch ausliegt, in das sich Besucher eintragen und nach Bemerkungen gefragt werden. Viele dieser Bemerkungen zeugen von der historischen Unwissenheit, die bei der griechischen Bevölkerung eher als durch Gehirnwäsche verfestigte Geschichtsklitterung zu verstehen ist.

Neben manchen Worten, die zur Versöhnung aufrufen oder einfach nur Bedauern über die Situation auf der geteilten Insel äußern, finden sich oft genug die kurzen, aber prägnanten Forderungen wie "Türken raus!", "Kill the Turks!" usw. Es ist leicht verständlich; wenn Touristen auf die allgegenwärtige antitürkische Polemik hereinfallen, kann man ihnen das kaum übelnehmen. Schon lange, bevor sie die Fotos der weinenden Frauen, zerlumpten Flüchtlinge und zerstörten Gemäuer an den Wänden dieses "Ausstellungsraumes" sehen, sind sie schon am Flughafen mit antitürkischer Propaganda überfallen worden - sofern sie vom Flug nicht zu ermüdet waren, noch solche Dinge wahrzunehmen - , werden in den Hotels in sogenannten Informationsveranstaltungen weiter indoktriniert und lesen schließlich in der ihnen zugänglichen englischsprachigen Presse nur von - wie oben schon erwähnt - den "occupied areas", wenn vom türkischen Norden die Rede ist und wenn Institutionen erwähnt werden, wie dem nordzypriotischen "Radio Bayrak", geschieht das ausnahmslos mit dem Zusatz "illegal". In besagtem Raum liegen auch Broschüren aus, in ansprechender Aufmachung, die vom "PIO" hergestellt werden, dem "Press and Information Office", das sich ganz darauf spezialisiert hat, die türkische Seite in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken. Solche Aktivitäten sind sehr erfolgreich gewesen und haben schließlich dazu geführt, daß nicht nur die Ausländer glauben, sondern auch die meisten griechischen Zyprioten, daß das Zypernproblem mit der türkischen Invasion angefangen habe und nicht mehr wissen, daß der seinerzeitige türkische Präsident Ecevit die Truppen nach Zypern geschickt hatte, um die Sicherheit der türkischen Minderheit zu gewährleisten.

Demjenigen, der sich mit Hilfe reichlicher - notwendigerweise gut ausgewählter Lektüre - über den historischen Ablauf kundig gemacht hat, ist, je nach seinem Gesundheitszustand, zu raten, die jetzige Polemik mit möglichst großer Gelassenheit zu ertragen. Menschen mit schwachen Nerven, die trotzdem die Wahrheit lieben, haben es nie leicht im Leben. Wenn sie aber ihr Leben nicht willkürlich verkürzen wollen, sollten sie sich niemals mit zypriotischer Wirklichkeit befassen.

Was, es ist nun an der Zeit, mit dem Geschwafel aufzuhören und das alles zu begründen? Das bisher Gesagte ist noch nicht genug? Also, dann noch ein paar Zugaben. Da sie lediglich Dokumentationswert haben sollen, brauchen sie weder stilistisch durchgearbeitet, noch in eine Rahmenhandlung eingebettet werden.

Seit einigen Wochen steht ein gewisser Dr. Matsakis, Mitglied des Parlaments für DIKO, die Partei des Präsidenten Klerides, vor dem einzigen -in einem anderen Kapitel bereits erwähnten- Übergang zwischen Norden und Süden. Er ist umgeben von einigen alten Frauen, die verblichene Fotos von männlichen Angehörigen vor der Brust tragen, die in den Wirren des Bürgerkriegs verschwunden sind und seitdem als vermisst gelten, angeblich teilweise -so die halboffizielle Propaganda- als Geiseln in Konzentrationslagern gefangen gehalten werden. Zu der Gruppe gehören einige weitere Aktivisten aus dem nationalistischen Lager, sowie einige Polizisten, die die ganze unglaubliche Geschichte bewachen sollen.

Sobald sich nun Touristen nähern, die -wohlgemerkt völlig legal und berechtigt- den türkischen Grenzübergang ansteuern wollen, werden sie von obiger Gruppe umzingelt und am Weitergehen gehindert. Zunächst versuchen sie es mit Überzeugungsarbeit, die sie selbst als "enlightenment", also "Aufklärung" bezeichnen, die allerdings daraus besteht, daß den zahlenden Gästen des Landes zunächst die altbekannten Lügen vom aggressiven Attila aufgetischt werden, sodann von grassierenden Seuchen im türkischen Teil geredet wird und den Ausländern klargemacht wird, daß, falls sie überhaupt wieder lebend zurückkommen, das nur in ausgeraubtem und vergewaltigtem Zustand der Fall sein wird. Diese Aktion wurde eine Zeitlang im Fernsehen auf allen Kanälen mit Wohlwollen übertragen und vor allem die Reaktionen der verschüchterten Touristen, die -anscheinend überzeugt- wieder von dannen zogen. Was nicht gezeigt wurde, war, was geschah, wenn die Aufklärungsarbeit mal nicht verfing, und auch ein Abgeordneter selbst schon mal handgreiflich wurde.

So widerfuhr es einer unserer Bekannten, die als eine der sogenannten eingeschlossenen Personen, also eine der im Norden verbliebenen ca. 800 Griechen, auf der Karpaz - Halbinsel lebt. Da ihr -ebenfalls dort lebender- betagter Vater schwer erkrankt war, und die notwendigen Medikamente im Norden nicht zu erhalten waren, war sie in den Süden gekommen und hatte sie erstanden. Auf dem Rückweg nun wurde sie von Matzakis' Bande aufgehalten und, so sagt sie, von ihm selbst festgehalten und als Verräterin beschimpft, als sie mit den Medikamenten die Grenze wieder überqueren wollte.

Übrigens erweckt das Wort "Verräter" eine ganze Menge Assoziationen. Nicht nur, daß die wenigen, im Süden gebliebenen Türken im Norden von reaktionären Kreisen als Verräter und im Süden als türkische Spione angesehen werden; auch Studenten unseres turkologischen Instituts müssen sich Beschimpfungen gefallen lassen. So erzählte eine angehende Studentin in der Einführungsveranstaltung, in der u.a. nach den Motiven gefragt wurde, die Anlaß für dieses bestimmte Fach waren, daß das sie gedacht habe, ihrem Heimatland zu dienen, wenn sie sich mit der Kultur und Sprache ihrer türkischen Nachbarn befasse. Leider habe sie dann doch die Beschimpfung als "Verräterin" im Familien- und Bekanntenkreise für einige Zeit davon abgehalten, dieses Studium aufzunehmen, ehe sie sich dann doch dazu habe durchringen können.

Überhaupt gilt für einen großen Teil der griechisch - zypriotischen Bevölkerung, daß für sie jeder ein Verräter ist, der auch nur das geringste bißchen Sympathie für irgend etwas Türkisches aufbringt. Da ich der Anschuldigung vorbeugen möchte, zu sehr zum übertreiben zu neigen, erwähne ich lieber keinen geschätzten Prozentsatz, sondern sage wieder nur, daß "ein großer Teil" der Bevölkerung für einen sofortigen Krieg mit der Türkei ist. Sogar griechische Mitarbeiter an der Universität haben sich schon dafür ausgesprochen. Aber natürlich gibt es auch diejenigen, die -um es auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen-, auf der Suche nach Möglichkeiten für eine Koexistenz sind. Zum Beispiel die Verhandlungsbefürworter, wie jener junge Direktor der Forschungsabteilung des größten privaten Lehrinstituts der Insel "Intercollege". Er hat wie so viele Zyprioten, die etwas auf sich halten, in Amerika studiert und -wie es sich gehört- ein Buch darüber geschrieben, wie man das Zypernproblem lösen könnte. Am Rande sei bemerkt, daß es außer diesem Thema wenig anderes gibt, das in den täglichen Nachrichten, Zeitungen, Gesprächen erwähnens wert scheint, da der Rest der Welt zu sehr an der Peripherie dieses Landes liegt.

Aber zurück zu unserem jungen Direktor. In einem Gespräch über eine mögliche Zusammenarbeit von Turkologischem Institut und seinem College entspann sich gleich zu Anfang des Gespräches ein Disput über das Verhältnis zwischen Griechen und Türken in Zypern. An seiner Reaktion, die zunächst erstaunt und dann verärgert war, merkte ich, daß er einfach nicht gewohnt war, daß ein Ausländer ihm widersprach. Abgesehen davon, daß es ohnehin unakzeptabel ist, daß ein Nicht-Zypriote einem Zyprioten widerspricht, ist das natürlich besonders unstatthaft in der Zypernfrage. Lieber hätte ich allerdings meiner Zunge plus Zahnersatz verschluckt als unwidersprochen zu lassen, daß die Türken auf Zypern gar nicht in den Norden hätten fliehen brauchen, sie ja vom griechischen Rundfunk während der Auseinandersetzungen 1974 sogar zum Bleiben aufgefordert worden waren. Aber ich muß ein bißchen weiter ausholen.

Als jener junge Direktor unser Gespräch einleitete mit der Vorstellung seines Buches, erwähnte ich, daß ich eine Rezension dieses Buches bereits gelesen hatte, die jenes für seine Vernunft und Zurückhaltung rühmte, weil es sich für einen intensivierten Dialog engagierte, um beide Seiten wieder einander näher zu bringen. Ich drückte ihm ebenfalls für diese Vernunft meine Anerkennung aus. Hätte ich das nur nicht getan, es hätte mir soviel Enttäuschung erspart, denn seine Argumentation war wie folgt: Da die Türken nun ein mal aggressiv und kriegslüstern sind und sie den Krieg nach Zypern gebracht, Zypern überfallen und ausgeplündert haben, sei es eigentlich Pflicht der Weltöffentlichkeit, dafür zu sorgen, daß dieses Unrecht rückgängig gemacht werde. Da die Geschichte aber gezeigt hat, daß der Rest der Welt nicht daran denkt, müsse man selbst sein Geschick in die Hand nehmen. Dazu müsse man ganz klar und objektiv sehen -und bald zeigte sich, daß sich die große Objektivität dieses Direktors hierin erschöpfte-, daß die Türkei auf jeden Fall militärisch überlegen sei, und somit nur bilaterale Gespräche in Frage kämen. Aus diesem Grunde müsse die griechisch-zypriotische Bevölkerung das ihr zugefügte Unrecht so gut wie möglich bei Seite lasse, um möglichst reibungslose Verhandlungen zu ermöglichen. Ich antwortete, daß letztere Bemerkung ein sehr lobenswerter Vorschlag sei, der wohl Erfolg versprechen könnte, zumal ich bei meinen Besuchen auf der anderen Seite auch unter der türkischen Bevölkerung keine Rachegefühle, kein Verlangen nach Revanche bemerkt habe. Worauf ich die verärgerte Antwort erhielt, daß die ja auch kein Recht dazu hätten, schließlich hätten die ja angefangen, und außerdem hätten sie ja gar nicht fliehen brauchen, dann hätten sie auch ihr Hab und Gut nicht verloren. Und dann folgte eben jener Hinweis auf die Aufforderungen im Radio an die Türken, ihre Dörfer nicht zu verlassen und nicht in die von türkischen Truppen besetzten Gebiete zu fliehen.
Zwar war ich zu jener Zeit der Invasion nicht in Zypern, und auch wenn ich es gewesen wäre, hätte das mir, in diesem Punkte nicht weitergeholfen, weil ich damals weder Türkisch noch Griechisch konnte. Aber ich verlasse mich auf die Berichte von damals anwesenden neutralen Beobachtern, nach denen Massenexekutionen an Türken vorgenommen wurden, direkt mit der Absicht, ein Fanal zu setzen.
Vollends zum entsetzten Verstummen brachte mich dann aber die Äußerung meines objektiven Zyprioten, daß die griechen Zyprioten ohnehin nicht in der Lage seien, Rachegefühle, zu entwickeln, weil - ich versuche, mich so gut wie möglich, an den genauen Wortlaut zu erinnern- die orthodoxe Kirche einen solch friedlich stimmenden Einfluß auf die griechische Seele habe. Diese Worte fielen wenige Wochen, nachdem einige friedlich gestimmte Griechen, gegen Wasserwerfer ankämpfend, versuchten den Bischofspalast in Nicosia zu stürmen um den Erzbischof zu lynchen, der mit Kontakten zur Unterwelt -nein, nicht zur Hölle, sondern zum Rotlichtmilieu- versucht hatte, Einfluß auf den Ablauf kirchlicher Wahlen zu nehmen. Und diese Worte fielen während einer Serie von Bombenattentaten - mit denen sich konkurrierende Unterwelt- und Geschäftsleute gegenseitig ins ewige Minus schicken.

Ich sagte meinem nicht mehr sonderlich friedlich gestimmten Gegenüber darauf, daß mir schon lange klar sei, daß die Zyprioten bezüglich ihrer Selbsteinschätzung von jedem Aspekt her in einem Traum lebten, ich doch aber immer wieder überrascht sei, wie phantasievoll dieser Traum ist.

Aus unerfindlichen Gründen ist es nie zu eine Zusammenarbeit zwischen dem Intercollege und mir gekommen.



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