Attilas Institutsgebäude


Ein zweiter Schreibtisch steht im Institut für Turkologie der Universität von Zypern. Das Büro ähnelt eher einer Gefängniszelle, höher als lang und breit, kleine Fenster, stets künstliches Licht, von den neu - hellblau - gestrichenen Wänden bröselt die blasige Farbe. Das Fenster vor meinem Schreibtisch ist vergittert, aber einen wesentlichen Unterschied zur Gefängniszelle gibt es doch: das Gitter ist aus kunstvoll gedrechseltem Holz und ich selbst kann jederzeit hinaus in den Innenhof des alten großen, steinernen Patriziergebäudes treten.

Der Blick in den Hof wird zwar durch das Holzgitter etwas beeinträchtigt, doch deutlich genug sehe ich die stets mit dem Dursttode ringenden Blumen, von den Gärtnern zum Überlebensversuch in dem staubtrockenen harten Boden gezwungen. Darüber erhebt sich eine der beiden großen Palmen im Garten. Das Gebäude steht zu drei Seiten des Innenhofes, nach Osten hin ist das Grundstück nur durch eine Mauer vom Nachbargrundstück getrennt. Auf den drei Seiten verläuft auf steinernen Arkaden eine Balustrade, die zu den Räumen im zweiten Stock führt. Von oben geht der Blick auf die toten, oft fast völlig zerfallenen Gebäude im Grenzstreifen.

Das Haus selbst bildet einen Teil der Grenze und die griechische und die zypriotische Flagge hängen schlaff und ausgebleicht fast in Greifnähe, nur wenige Meter dahinter, ebenfalls schön paarig, die türkische und diejenige der "türkischen Republik Nord-Zypern". Das Institut hat das Gebäude erst vor wenigen Wochen bezogen und zwar nicht ohne Hindernisse. Wieder einmal sahen sich Presse, Rundfunk und Fernsehen veranlaßt, das türkische Institut aufs Korn zu nehmen. Dieses schöne alte Gebäude wurde bis zu unserem Einzug mit viel staatlichem Geld und einer beachtlichen Spende eines früheren Bewohners renoviert und gilt als ein besonders eindrucksvolles Beispiel alter zypriotischer Wohnkultur, was sich für uns hier am Schreibtisch konzentriert arbeitende Wissenschaftler auf nicht immer ganz glückliche Art bemerkbar macht. Nämlich wenn plötzlich ein herdenartiges Getrappel auf den neuverlegten Steinen und dazu erstauntes Gemurmel, Entzückensrufe und die alles übertönende besserwisserische Belehrungsstimme eines Touristenführers die Konzentration zunichte macht.


Attilas Institutsgebäude
Attilas Institutsgebäude

Daß gerade wir, die Lobby des Todfeindes Attila, dieses Haus beziehen durften, war (und ist) für viele Griechen unverständlich. Und das heißt üblicherweise viel laute Empörung, ganz ganz böse und eindruksvoll gestikulieren und jegliche Objektivität aus dem Auge verlieren.

Zwar hatten wir das Gebäude vor mehreren Jahren zugesprochen bekommen, aber Neider gab es von Anfang an, und als herauskam, daß in diesem Haus der berüchtigte Georgios Grivas ein paar Jahre gelebt hatte, gab es einen Aufruhr, der, wie gesagt, bis in die Presse und die Ministerien ging. Grivas, der zwar in Zypern geboren war, aber die griechische Staatsbürgerschaft hatte, war am blutigen Schicksal Zyperns nicht gerade unbeteiligt. Nach seiner Rückkehr nach Zypern gründete er die EOKA, deren 1955 einsetzender Kampf gegen die britische Besatzungsmacht von Lawrence Durell so anschaulich beschrieben wurde. Daß es sich dabei um einen Befreiungskampf handelte, ist kaum zu bezweifeln, auch wenn man bei Durell überraschenderweise liest, daß es ihm unverständlich war, daß die Zyprioten die gottgegebene britische Oberherrschaft nicht mehr anerkennen mochten. Was aber auch manchem Zyprioten nicht gefiel - und den türkischen schon gar nicht - war die Absicht von Grivas und seinen Anhängern, Zypern nach der Befreiung von den Engländern, Griechenland anzuschließen, der "Anschluß" also, Enosis.

Als Makarios, der zunächst ebenfalls ein Vertreter der Enosis war, von diesem Gedanken allerdings Abstand nahm, wurde Grivas dessen ärgster Feind, dessen verschwörerische Aktivitäten schließlich den Erzbischof zwangen, sich ins Exil zu flüchten. Nicht zuletzt die von Grivas gegründete Terror-Truppe EOKA/B, die die griechische Militär-Junta hinter sich hatte, schürte das Feuer solange, bis es schließlich zu dem Brand kam, der von Ecevit veranlaßten Invasion durch türkisches Militär, dessen Brandspuren noch quer durch Nikosia zu sehen sind und der zu der ethnischen "Säuberung" führte, die Hunderttausende von Menschen heimatlos machte.

Als im Laufe der aufgeregten Diskussionen über den Einzug ausgerechnet des turkologischen Instituts in das ehemalige Wohnhaus dieses Volkshelden ein Student in einem Leserbrief Grivas als einen Verräter bezeichnete, wurde dieser dreiste Student, von manchen Leuten prompt als türkischer Spion verdächtigt, im Beisein des Lehrpersonals des Instituts zum Rektor zitiert. Da ohnehin gerade ein ungünstiger Zeitpunkt für politisch unliebsame Äußerungen war, überlegte man doch im orthodox-konservativen Erziehungsministerium angestrengt, wie man am schnellsten und nachhaltigsten die Autonomie der Universität untergraben könne. So wurde denn den Studenten auch deutlich nahegelegt, zukünftig von solch gefährlichen Briefen Abstand zu nehmen, und dem Lehrpersonal wurde empfohlen, auf Anfeindungen gar nicht erst zu reagieren, da dadurch nur noch mehr Aufmerksamkeit auf das turkologische Institut gezogen würde. Dieser Maulkorb gilt bis heute - ein Jahr später.

Die Autonomie der Universität konnte halbwegs gerettet werden. Dennoch sind die Dozenten stets in Geplänkel bis zu schweren Grabenkämpfen verstrickt. Ein besonderer Schwierigkeitsgrad in der Kür des Widerstands ist dadurch gegeben, daß auf der anderen Seite die religiöse - ultraorthodoxe - panhellenische Erziehungsministerin und der Erzbischof Chrysostomos Hand in Hand arbeiten. Eine Ministerin, die mit Vorliebe öffentlich bekundet, daß griechische Schüler und Studenten auf jeden Fall in hellenistischem und orthodoxem Geist unterrichtet werden müßten, und unter deren zahlreichen Heldentaten jene war, einen Lehrer aus dem Schuldienst zu entfernen, der sich weigerte, die Bibel bei einer Zeremonie zu küssen. Der Erzbischof, der, wie viele ältere Priester in etwa so aussieht, wie der liebe Gott mit Übergewicht.

Von ihm seien in aller Kürze zwei kleine Geschichten erzählt, die mit der Universität zu tun haben. Die eine endete damit, daß herauskam, daß die Heiligenbildchen, die eines Morgens in den Unterrichtsräumen des Universitätshauptgebäudes entdeckt wurden, in einer Nacht- und Nebelaktion auf Geheiß unseres übergewichtigen lieben Ebenbildes angebracht worden waren. Die zweite endete damit, daß einer Dozentin von der Verwaltung ans Herz gelegt wurde, eine bestimmte Studentin bei der Prüfung nicht durchfallen zu lassen, nachdem eben jene junge Dame vor dem sich abzeichnenden wiederholten Scheitern einer Prüfung die Türen verschiedener Büros eingelaufen hatte. Erst kürzlich habe der Herr Erzbischof mit einem privaten Anruf bei einem Professor erreicht, daß dieser einen Studenten bestehen ließ, der ohne die fromme Fürbitte in der Prüfung gescheitert wäre.

Eines muß man den hiesigen Studenten lassen, bei aller mangelnden Bildung verstehen sie es auf das Geschickteste, durch alle Prüfungen zu kommen. Unsere Turkologie-Studenten sind hierin besonders gut. Sie machen sich geschickt, wie ein jahrelang geschulter, fronterfahrener Diplomat das ohnehin ständig in Deckung liegende Institut zu nutze. Ein Besuch beim Minister, ein Brief an eine Zeitung, ein Boykottaufruf gegen einen bestimmten Lehrer und das ganze Seminar kuscht aus Existenzangst. Überhaupt in diesem ganzen Land: arm ist nur der dran, der nun wirklich überhaupt keine Beziehungen hat.

Schluß! Verlassen wir das unerfreuliche Terrain des Universitätsalltags und kehren wir zurück in das ruhige Institutsgebäude. Steigen wir hinauf in den zweiten Stock, die Holztreppe hoch zur Balustrade, links liegt wie ein kleiner Einzelbau das Büro der Sekretärin, aus dessen rückwärtigem Fenster der Blick auf die einmal Häuser gewesenen Steinhaufen geht, und links die Straßensperre, aus Steinen, Blechplatten, Holz und Draht eher provisorisch aufgeschichtet, gerade mal mannshoch. Hier ist es so ruhig es herrscht tiefer Friede, der zum tiefen Durchatmen einlädt. Nur manchmal hört man hier oben vielkehliges, rhythmisches Gebrüll, das von einer Straßensperre ein paar hundert Meter weiter rechts kommt.

Hier ist einer der Orte, an dem im Laufe des Jahres einige Dutzend Demonstrationen stattfinden, an denen sich fast ausschließlich Schüler beteiligen. Der Muezzin auf der anderen Seite kommt allerdings mit Leichtigkeit dagegen an. Auch auf Zypern sind Minaretts ohne Lautsprecher inzwischen wohl kaum noch zu finden. Bei dem heutigen Wettkampf zwischen Muezzin auf der türkischen und den Chören auf der griechischen Seite geht es um einen jungen griechisch-zypriotischen Soldaten, der vor einigen Tagen auf rätselhafte Weise von seiner Stellung an einem schwer einsehbaren Grenzposten verschwand. Er ist bis heute nicht aufgetaucht und was liegt näher, als das die Türken ihn entführt haben. Möglich scheint auf diesem anarchischen Inselparadies alles. Man wird aber schnell mißtrauisch, wenn man merkt, daß einen Tag ein Mann im griechischen Teil von einem tollwütigen Hund angefallen wird und am nächsten Tag die Zeitungen schreiben, daß tollwütige Hunde aus dem besetzten Norden, den freien Süden bedrohen.

Das Institut liegt im nordöstlichsten Teil der Altstadt. Tritt man auf die Straße, ist man in einem Gewirr von Gassen, die dem unerfahrenen als schier unentrinnbares Labyrinth zwischen alten Stein- und Häusern aus Lehmziegeln erscheinen.

Aus der Tür heraus unmittelbar rechts herum etwa 40m weiter wird die schmale Gasse von der oben geschilderten Straßensperre beendet. Eine von unzähligen typischen Sackgassen in der Altstadt. Den Tag über ist es hier ruhig wie in einem vergessenen Park. Erst wenn abends das kleine Restaurant in einem der beiden Häuser auf der linken Seite vor der Sperre öffnet, gibt es ein paar Lebenszeichen, wenn sich an zwei, drei Tischen Gäste einfinden. Es gibt ein passables Suvlaki mit Brot, Zwiebeln und Tomaten und zwischen zwei Bieren und sonstigen Getränken kann man entscheiden. Durch das Abenddunkel schimmern im Hintergrund die blau-weißen Streifen der griechischen Flagge, mit denen das leere Häuschen des Grenzpostens angemalt ist. Menue romantique à la Chypre.

Anstatt rechts in diese kurze gastronomische Sackgasse einzubiegen, kann man auch aus dem Institut tretend geradeaus in eine kleine Gasse gehen, aber auch hier steht man, wenn man an der kleinen Kirchen aus grauen Steinquadern auf der linken Seite vorbei ist, nach hundert Metern wieder vor einem Verhau aus Steinen, Blech und Draht, ein zwei Soldaten davor.

Wer zu Fuß ist, braucht nicht umzukehren, sondern kann durch den Vorhof der kleinen Kirche, auf der anderen Seite hinaus, hindurch durch winzige bunte Gärten wieder in das Gassengewirr entfliehen. Die Art Gärtchen bestehen oft, wenn man genauer hinsieht aus Blumen, meist von der Trockenheit verkümmerten Dahlien, Hortensien, Rosenstauden, Kakteen, die in vielerlei verschiedene Behälter gepflanzt sind, kaum je Töpfe, meist halbverrostete größere Konserven, alten Ölkanistern, Olivenbehältern und undichten Bezinkanistern. Sie stehen entlang Hauswänden, in Eingängen, auf ausgetretenen Stufen, Mauervorsprüngen oder Fenstersimsen in den verschiedensten Größen und Zuständen des Verfalls. Das ist nicht typisch zypriotisch. Diese kleinen Dosen- und Kanister-Gärtchen finden sich ebenso in Istanbul oder Heraklion oder fast jedem anderen Ort im Mittelmeerraum. Mit ihrem stets provisorischen Zustand geben sie das Lebensgefühl ihrer Gärtner wieder und zeugen von deren zaghaften, aber zähen Widerstandsversuchen gegen Trockenheit und Hitze, die mit grünen, roten und gelben Tupfern in ihre Schranken verwiesen werden.


Im Niemandsland
Im Niemandsland

Wir biegen nun noch einmal links ab in die Gasse und sehen schon das einzige Minarett der Taht-el-Kale-Moschee vor uns. Ein kleiner, mehr schlecht als recht erhaltener Bau, mit einem Vorhängeschloß, weil hier keine Gottesdienste mehr stattfinden, wie in den übrigen Moscheen Süd-Nikosias, bis auf eine Ausnahme, auf die wir noch zurückkommen.

Dieses ganze, ansehnlichste Viertel der Stadt ist nach dieser kleinen, klobig-geduckten Moschee benannt. Um sie herum, in den besonders betriebsamen Gassen, rattert, zischt, pfeift und klopft es aus den unzähligen Handwerksbetrieben, deren Türen immer offen stehen und zum Zuschauen einladen. Dieses Viertel wirkt nicht nur wegen der Werkstätten so lebendig, sondern auch wegen des besseren Zustandes der Häuser, wird doch in diesem Viertel viel mehr renoviert als in der übrigen Altstadt. Seine vom Zentrum so abgelegene Position, und die Tatsache, daß jeder Verkehr unweigerlich nach einigen hundert Metern vor einer Grenzmauer endet, bringt es mit sich, daß eben auf Grund des wegbleibenden Verkehrs hier das Spazierengehen auch noch Spaß macht, da man sich nicht wie in anderen Vierteln bei jedem Auto mangels Bürgersteig an eine Hauswand drücken muß.

Von der Taht-el-Kale um die Ecke herum ein paar Meter die Hermes-Straße hinunter gelangt man Kirche der Panagia Chrysaliniótissima. Namensgeberin war eine Ikone, die im 11. Jahrhundert auf Leinen gemalt wurde. Ebendies bedeutet der Name: Mutter Gottes vom goldenen Leinen. Wie viele Kirchen Zyperns gleicht sie einem Ikonenmuseum, das auch einem kunstsinnigen Atheisten einen Besuch wert sein dürfte. Wenn wir aus dem Haupteingang kommend rechts abbiegen, sehen wir schon nach wenigen Metern wieder unser Institutsgebäude, eines der drei Häuser in der Axeotheia-Gasse.



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