Die Janitscharen in der Mesaoria


Mein Schreibtisch steht ungünstig. Jedenfalls zum arbeiten. Sobald ich den Kopf hebe, geht mein Blick weit in die Ferne, dorthin, wo die Mesaoria rechts neben dem Pentadaktylos mit dem Horizont im Dunst verschwimmt. Oder mit dem Staub, den der heiße Wind über die Hochebene fegt. Von den drei gelblichen Betonscheußlichkeiten, die Prachtexemplare der Architektur des modernen Nikosia sind, wird mein Blick nicht aufgehalten. Die Mesaoria zieht ihn weit mit sich in die Ferne, in Richtung Famagusta, das ich aber selbst bei bester Sicht nicht sehen würde, weil es bis dort immerhin rund vierzig Kilometer sind.

Der Pentadaktylos steigt, von der wurmförmigen Halbinsel Karpasos kommend, die mir von meinen Fenster ebenfalls verborgen bleibt, zu uns in Richtung Nikosia aus dem Dunst heraus in etwa 800m Höhe an und verläuft so, mit höheren oder niedrigeren Gipfeln, nördlich die Mesaoria begrenzend an Nikosia vorbei nach Westen zum Kap Kormakiti. Der Gipfel, oder vielmehr die fünf eng zusammen gelegenen, wie Finger einer Hand sich in den Berg krallenden, die dem ganzen Gebirgszug seinen Namen gegeben haben, sind mir gerade noch sichtbar über dem Balkon des Betonklotzes links außen.

Bewege ich mich weiter nach vorn, bis fast an die Scheibe - was der Arbeit weniger förderlich ist, und blicke nach links zum Pentadaktylos, sehe ich, wiederum je nach Dunst, Sand oder Smog, im Prinzip aber sehr deutlich, die überdimensionale Flagge der "Türkischen Republik Nordzypern", die dort, ich weiß nicht, wie viele Fußballfelder groß, nach der türkischen Invasion 1974 in den Berg gerodet wurde. Links daneben ist deutlich zu lesen, für den, der türkisch lesen kann: "ne mutlu Türküm diyene". Darunter: Atatürk. Er soll es wirklich gesagt haben: Wie glücklich, wer von sich sagen kann, ich bin ein Türke. Flagge und Spruch schweben für den, der von Richtung Süden, von Limassol oder Larnaka kommt, mahnend über Nikosia. Und in Nikosia geht man in so mancher Straße, besonders aber in der Haupteinkaufsstraße und Fußgängerzone Ledra direkt auf sie zu. Genial! In der gleichen Position verharrend, aber den Blick nach unten gerichtet, fällt der auf zwei flache, ältere Gebäude, die sicher auf den baldigen Abbruch warten, vom anscheinend unaufhaltsamen Bauboom in diesem griechischen Teil der zypriotischen Hauptstadt zu Tode eingeschüchtert. Zwischendurch Kakteen, kleine, einzeln stehende und große Büsche, dazwischen unordentlich gestapelte Kartons, alte und neue Autos usw.

Obwohl nun zusehends das Pentadaktylos im abendlichen Zwielicht schwächer wird, davor, also im türkischen Teil, in der Mesaoria kleine, winzige Lichter kriechen, vielleicht von Famagusta oder Trikomo kommen, gehe ich nach vorn durch die Wohnung und blicke aus dem Wohnzimmerfenster.

Links, in weiter Ferne ist der Olymp noch schwach zu erkennen, sogar die von den Engländern darauf errichtete Lauschmuschel. Die anderen Teile des Troodosgebirges sind von einer Wolkenwand eingehüllt, die langsam, von Nordwesten kommend über es hinweggerutscht ist.

Noch etwas weiter links hinter den letzten Häusern sind die Hügel zu erkennen, die ganz ganz langsam ansteigend etwa 40-50 Kilometer weiter dann den Namen Troodos annehmen. Wieder nach rechts schwenkt der Blick Richtung Ost-Nordost-Nord, unter dem Olymp vorbei hinweg über die unzähligen Dächer der kastenförmigen Büroungeheuer der Neustadt hin zur Altstadt, die sich hinter die Venezianische Mauer duckt, aber von hier schutzlos dem Blick preisgegeben ist. Sie vergibt sich damit nichts, ihre kleinen schäbigen Häuser, ihre engen Gassen und gar die berühmte "Green line", die sie durchschneidet bleiben im Einzelnen unerkennbar. Der Blick bleibt haften einzig an dem merkwürdigen, langgezogenen Bau, mit Bögen wie Notre Dame, aber zwei deutlichen Minaretten, die vor den östlichen Gipfeln des Pentadaktylos gen Himmel reichen. Von hier aus ist das Gebäude nicht als imposant zu bezeichnen. Aber es ist schön, wenn morgens die ersten Sonnenstrahlen darauf fallen, und die einzelnen Bögen sich von den Mauern hell abhebend bis hier herüberleuchten. Hier herüber, weil dort "drüben" ist, die türkisch besetzten Gebiete, nach offizieller Lesart. Mitten in der Altstadt ist sie oft ganz nah, daß es scheint als müsse man nur um die nächste Ecke gehen, um sogleich vor ihm zu stehen. Ursprünglich die größte gotische Kirche auf der Insel, wurde ihr Grundstein 1203 vom fränkischen Herrscherhaus der Lusignans gelegt. Nach der türkischen Eroberung 1570 wurde dann aus der Sophienkathedrale die Selimiye-Moschee, benannt nach Sultan Selim, zu jener Zeit Herrscher über das Osmanische Reich, das auf den Höhepunkt seiner Macht zustrebte. Noch auf einer Briefmarke von 1962 finden sich gleichzeitig nebeneinander über dem Bild des Baus die Namen "Aya Sofia" und "Selimiye Cami", die Kirche der heiligen Sofia und die Moschee des Selim in trauter Eintracht. 1962 ist sehr lange her. 1974 dagegen ist sehr nah und allgegenwärtig. Doch davon später mehr.




Zurück am Schreibtisch geht mein Blick wieder hinaus in das ferne dunkle Grau, wo sich die Mesaoria ausstreckt. Ein greller Vollmond steht hoch darüber am dunkelblauen Himmel. Eine Fledermaus fliegt zackig schwankend zwischen Fenster und Mond. Vor dem Pentadaktylos, im türkischen Teil, flimmern zahlreiche Scheinwerfer auf Nikosia zu, die Straße von Famagusta kommend. Vor 422 Jahren zogen etwa 4000 Janitscharen den umgekehrten Weg um von Nikosia aus "Maghosa" zu erobern.

Und vor 21 Jahren, drei Monate nach dem Einmarsch der türkischen Armee kam mit einem dieser Funkellichter ein deutscher Weltenbummler mit Frau und kleiner Tochter im ausgebauten Bulli, eigentlich auf dem Rückweg von Indien nach Europa über die Straße aus Famagusta, auf die er jetzt vom Arbeitszimmer aus schaut. Aber das konnte er damals nicht wissen. Auch nicht, das ein kleines, zehnjähriges griechisches Mädchen, das zwei Monate vorher mit seiner Familie aus Famagusta in die Berge geflohen war, einmal eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen würde. Aber auch davon später mehr.



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