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Ahmet Ümit und andere gefährliche türkische Autoren

Die türkische Literatur ist etwa so alt wie die germanische. Eher etwas älter. Das ist wichtig zu betonen, da von vielen vorurteilsbeladenen Zeitgenossen den Türken gar keine „alte“ Kultur zugetraut wird. Auf die Runeninschriften folgten die manichäische, insbesondere aber die enorm reiche buddhistische Literatur, die wenig umfangreiche christliche, bevor die Türken in Zentralasien wie in Anatolien sich dem Islam zuwandten. Damit führten die Einflüsse der arabischen, viel mehr noch der persischen Literatur zu der reichen tschagataischen Literatur in Zentralasien und zur osmanischen Literatur im Osmanischen Reich.

Durch die Hinwendung vieler türkischer Intellektueller zur westlichen Kultur, in besonderem Ausmass ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, blieb auch die Literatur Westeuropas nicht ohne Einfluss auf die osmanischen Schriftsteller. Dies brachte auch die Einführung neuer Genres mit sich, z.B. des Romans. Zwar erschien der erste türkische Roman bereits 1851 –, aber erst mit den ersten Übersetzungen westlicher Romane in das Osmanisch-türkische begann wirklich die Verbreitung dieses Genres im Osmanischen Reich.

Von Beginn an trägt die westlich geprägte türkische Literatur bis in die jüngste Zeit hinein einen dominierenden sozialkritischen Zug.. Diese Tendenz zeigen schon die ersten beiden Romane, die auf Türkisch verfasst sind, indem sie die sog. Zwangsehe, also die „arrangierte Ehe“ problematisieren. Erst spät, d.h. etwa in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, unter den Repressionen der Militärcoups, bildet sich die sog. Psychologisierende Literatur heraus, die auf die innere Migration der Schriftsteller zurückgeführt wird.

Den ersten autochthonen türkischen Werken gehen aus westlichen Sprachen, besonders dem Französischen, übersetzte Romane voraus. Der erste ins Türkische übersetzte Kriminalroman war ein Werk Ponson de Terrails, der 1881 in Istanbul erschien, mit seinem „gentleman-gangster“ Rocambole als Protagonist. Also ein Buch, das man nicht als Detektiv-Roman bezeichnen könnte. Letzteres trifft aber auf die Übersetzung von Gaboriaus Le crime d’Orcival (1884) zu. Gleichzeitig erschien in Fortsetzungen der erste autochthone türkische Kriminalroman (1883/4), und zwar Das Geheimnis der Verbrechen des Polyhistors Ahmet Midhat. Dieser bedeutende Reformer verstand seine zahlreichen Werke allerdings vorwiegend als literarisch verpackte Aufklärung und Information. So enthält dieser Kriminalroman immer wieder längere Passagen über moderne Polizeimethoden und forensische Medizin.

Die Kriminalliteratur der nächsten Jahrzehnte war von Übersetzungen westlicher Vorlagen geprägt, meist aus dem Französischen, weil dies die meist-gelehrte westliche Fremdsprache war. Erst 1902 erschien Edgar Allen Poes berühmtes Werk The Murders in the Rue Morgue und 1909 die ersten Übersetzungen von Conan Doyles Sherlock Holmes. Dieser wurde zum Superhelden, nicht nur der Leser, die sich die übersetzten und veröffentlichten Werke kauften, sondern auch schon Sultan Abdülhamidts II (1876-1909), der sich Doyles Werke privat im Übersetzungsbüro übersetzen ließ . Seine Begeisterung für den Erfinder Sherlock Holmes ging so weit, dass er Doyle sogar nach Istanbul einlud.

Diese und die nächsten ca vier Jahrzehnte waren die Zeit der Massenübersetzungen, angefangen von den Werken Maurice Leblancs bis hin zu einer Vielzahl von Groschenheften, wie sie vor allem in Amerika üblich waren. In vielen Fällen handelte es sich nicht nur um Übersetzungen, sondern um Adaptationen –mehr oder weniger frei – von dünnen Heften und Büchlein, die anscheinend eigenständig, unter Pseudonym erschienen, aber mit den bekannten westlichen Protagonisten. Manche solcher „dime novels“ wurden von ansonsten seriösen Schriftstellern verfasst, wie z.B. die kurzen Romane um den „gentleman-gangster“ Cingöz Recai von Peyami Safa (1899-1961), der diese wahrscheinlich nur zur Aufbesserung seines Einkommens schrieb.

Ein Schriftsteller, der sich vor allem mit seiner Anatolien-Literatur einen wohlverdienten Namen gemacht hat, ist Refik Halit Karay (1888-1965). Ob man seine beiden Kriminalromane aber wirklich zu diesem Genre rechnen soll, kann diskutiert werden, da sie teilweise surrealistische Elemente enthalten, die mancher als postmodern ansehen würde. Verbrechen und Aufklärung haben hier jedenfalls keine so tragende Bedeutung wie es für den Kriminalroman typisch ist.

Der erste türkische Schriftsteller, den man als ausgesprochenen Krimiverfasser bezeichnen kann, ist Ümit Deniz (1922-1975). Seine Sprache ist nicht sonderlich kunstvoll, aber durchaus lesbar. Eine besondere Rolle gebührt ihm auch, da er den ersten Serien-Detektiv der türkischen Kriminalliteratur geschaffen hat, ein Wiederaufstehmännchen nach den Vorbildern der Detektive Chandlers und Hammets, und der sich damit in die Helden der „hard boiled school“ einreiht.

Die zweite kriminelle Generation

Ausschlaggebend für den endgültigen Durchbruch der autochthonen türkischen Kriminalliteratur waren wahrscheinlich die Übersetzungen von westlichen Klassikern wie Agatha Christie und George Simenon und deren – meist – Fernsehverfilmungen. Den Beginn macht 1994 eigentlich ein Autor von Thrillern, der 1936 geborene Osman Aysu, der einen dicken Thriller nach dem anderen produziert. Zwar gehört dieses Subgenre nicht in unsere Thematik, aber es ist wichtig zu wissen, dass in der Türkei weder Leser noch Buchhändler bis in die jüngste Zeit zwischen diesen beiden Gattungen unterschieden haben.

Die zweite Phase autochthoner türkischer Kriminalliteratur wird durch Ahmet Ümit eingeleitet, der – wie wir sehen werden – auch der produktivste werden sollte. Er wurde1960 in Gaziantep in Südostanatolien geboren kam und mit achtzehn Jahren nach Istanbul, wo er zunächst studierte, dann aber als linker politischer Aktivist in den Untergrund ging. Seine Karriere als Schriftsteller begann er – wie so viele türkische Autoren – mit der Poesie. Aber schon sein zweites Buch, mit dem Titel „Barfuss war die Nacht (Çplak Ayaklyd Gece), das 1992 erschien und Erzählungen enthält, von denen eine Charakteristika einer Kriminalerzählung aufweisst. Ümit selbst sagt, dass er von einem Freunde auf die Tatsache hingewiesen wurde und erst dadurch auf die Idee kam, sich an einem Kriminalroman zu versuchen.

Ein ganz kurzer Abriss der Geschichte, deren Titel „Der Zuhälter“ (Pezevenk) ist, wird uns einige Elemente zeigen, die im späteren Werk des Autors immer wiederkehren: Ein politisch aktiver junger Mann erhält die Nachricht, dass es in der Organisation, in der er aktiv ist, einen Polizeispitzel gibt. Er ist aber nicht davon überzeugt und versucht, seinen Informanten davon zu überzeugen, dass seine Informationen nicht zuverlässig genug seien. Er kehrt zurück nach Hause zu Frau und Kind, wo er vom Fenster aus auf der Strasse einen Mann bemerkt, der das Haus beobachtet. Im Verlauf der Geschichte wird er immer überzeugter davon, dass an dem Bericht über den Spitzel etwas Wahres sein muss und er und seine Frau planen eine überstürzte Flucht. Das Folgende ist eine sehr gelungene Schilderung der Zuspitzung einer Paranoia und deren überraschender Auflösung, die hier – ausnahmsweise geliefert wird: Der Mann, der das Haus beobachtet, ist ein Zuhälter, der seine dort schaffende Dirne überwacht. Elemente in dieser Geschichte, denen wir in späteren Werken wieder begegnen werden, sind z.B. der Aufbau der Spannung, die Paranoia, der politische Hintergrund und nicht zuletzt das Fünkchen Humor, das in der Auflösung zum Tragen kommt.

Sein erster, 1994 erschienener, Roman (Eine Stimme teilt die Nacht/Bir ses böler geceyi) ist zwar kein Kriminalroman, bewegt sich aber durchaus im Kreise des Dunklen und Mystischen. Mitreißend wird hier die Auseinandersetzung zwischen Gemeindemitgliedern und Vorstehern eines alevitischen Dorfes geschildert. Die Alevis sind eine religiöse, nicht unbedeutende Minderheit in der Türkei und im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Repressalien ausgesetzt gewesen. Im weiteren Sinne geht es um die Konflikte zwischen individuellen Bedürfnissen auf der einen und religiösen Zwängen auf der andren Seite. Eltern eines toten Jungen wehren sich dagegen, dass ihrem Sohn von den dedes (geistlichen Führern) eine Bestattung nach alevitischem Ritual verweigert wird, da er an der Autorität der dedes zweifelte. Die konkrete Handlung und die Stimmung des Buches aber, in dem ein Unfall in finsterer Nacht, ein leeres Grab und ein Geheimtreffen eine Rolle spielen, bringt es in die Nähe der Kriminalliteratur, zumindest aber Spannungsliteratur, wie es der Autor auch verstehen will, wenn er es ein „mistik bir gerilim öyküsü“ (eine mystische Spannungserzählung) nennt.

Erstarrte Hierarchien, Machtmissbrauch, die Diskriminierung von Minoritäten sind ebenfalls immer wiederkehrende Themen in Ümits Büchern. In seinem ersten, 1996 erschienenen Kriminalroman „Sis ve Gece“ (inzwischen auch auf deutsch „Nacht und Nebel, 2005) sind alle drei Themen mit einer spannenden Charakterstudie eines Geheimdienstlers verwoben. Dieses Buch zeigt, wie meisterhaft die Technik beherrscht wird, ein Rätsel deutlich zu machen (hier das Verschwinden einer Person), die Nachforschung des Detektivs (hier ein Geheimpolizist) zu schildern, während dessen falsche Fährten zu legen (Verzögerungseffekt zum Spannungsaufbau), um schliesslich zu einer überrachenden, den Leser schockierenden Lösung zu führen. Selbst einer der strengsten tükischen Literaturkritiker, Fethi Naci, kritisiert zwar an diesem Roman teilweise mangelnden Realismus (unberechtigt!), billigt dem Autor aber den für dieses Genre notwendigen mitreissenden narrativen Stil zu. Dieses ist das einzige Buch des Autors, das bisher in deutscher Übersetzung vorliegt.

Wie der Leser bereits gemerkt haben wird, sind Ahmet Ümits Werke bis zu einem gewissen Gerade Türkei-spezifisch, aber eben nur bis zu einem gewissen Gerade. Machtmissbrauch in erstarrten Hierarchien dürften eher ein universelles Problem sein, das sich nur in unterschiedlichem Gewande zeigt. Ein etwas grösseres Problem stellen für den Leser, der mit dem Leben in der Türkei nicht so bewandert ist, manche ethnischen Probleme dar. Aber auch dies ist nur zum Teil der Fall.

Der im Jahre 2000 erschienene, breit angelegte Roman Patasana (Name eines hethitischen Kanzleischreibers) hat keine Themen zum Gegenstand, die dem durchschnittlichen Leser unbekannt sind, da es sich um die in öffentlichen Medien ausgiebig diskutierte Armenierfrage, das Kurdenproblem und islamischen Radikalismus handelt. In der Umgebung einer archäologischen Ausgrabungsgruppe geschehen mehrere Morde. Dass die Täter in einer der drei genannten Gruppen vermutet werden, gibt nicht nur viele Möglichkeiten für die Spurensuche, sondern gibt auch Einblicke in einige ernsthafte Probleme der türkischen Politik und der Gesellschaft. Darüber hinaus gibt die parallel laufende Handlung mit dem hethitischen Schreiber, dessen Texte ausgegraben und an Ort und Stelle entziffert werden, dem Roman eine allgemein menschliche Dimension, indem immer wieder die Synchronie durchbrochen wird.

Ümit meistert die Schwierigkeit, eine Verbindung zwischen den beiden zeitlichen Ebenen herzustellen, nicht nur durch Ähnlichkeiten in der Handlung, der Konstellationen der jeweiligen Protagonisten, sondern auch durch sprachliche Mittel. Auf der zehnten Tafel berichtet z.B. Patasana von seiner Begegnung mit Aschmunikal, seiner Geliebten. Die letzten Sätze lauten: „Als ich in ihre warmen Augen sah, die jeden Menschen zutiefst berührten, begriff ich, dass ich meiner ersten Liebe begegnet war, der Frau, die mein Leben verändern würde. Aufgeregt, ängstlich und zugleich voller Freude richtete ich mich auf.“ Das darauf beginnende elfte Kapitel, das am Anfang erzählt, wie die Archäologin Esra den Hauptmann, in den sie verliebt ist, in seiner Unterkunft aufsucht, fängt mit dem Satz an: „Erfreut standen die zwei Soldaten auf und gingen auf Esra zu.“ Wie in einer wellenhaften Bewegung werden hier die zeitlichen Ebenen durch zwei nahezu synonyme Verben, „sich aufrichten (doğrulmak)“ und „aufstehen (kalkmak)“ miteinander verbunden.

In dem im Jahre 2002 erschienenen umfangreichen Roman Kukla (Die Marionette) geht es um einen konkreten Politskandal, der dadurch zur Belletristik und zum Kriminalroman wird, dass ein fiktiver, privater Aufklärer sich der Klärung des Falles annimmt. Der Detektiv ist ein alkoholkranker, geschiedener Journalist. Das Bewusstsein, dass er nichts mehr zu verlieren hat, lässt ihn zahlreiche lebensbedrohende Situationen überstehen. Meisterhaft versteht es Ümit, den Leser miterleben zu lassen, wie sich nichtsdestoweniger in seiner Hauptfigur Paranoismus aufbaut.

Auch die zwei folgenden Romane Beyoğlu Rhapsodisi und Kavim (Der Stamm) sind Werke, die typisch türkische Themen zum Gegenstand haben. Trotzdem unterscheiden sie sich stark voneinander. Beyoğlu Rhapsodisi ist zweifellos ein Kriminalroman, aber ebenso sehr eine Hommage an den alten christlichen Stadtteil Beyoğlu mit seinen belebten Gassen, zahllosen grossen und kleinen Restaurants, Buchläden, Nachtclubs, öffentlichen und versteckten Bordellen, Teestuben, Strassenverkäufern usw.

„Kavim“ dagegen zeigt uns das weite Spektrum der kulturellen Welt der Türkei. Dem, was der Roman ausdrücken will, wird m.E. nur eine etwas ausführlichere Inhaltsangabe gerecht: Der Kommissar und seine beiden Assistenten werden an einen Tatort gerufen, an dem ein junger Mann mit einem angespitzten Kreuz erstochen wurde. Neben ihm finden sich eine Bibel und mit Blut geschriebene Zitate daraus. Es stellt sich heraus, dass das Opfer ein Süryani ist, ein christlicher Syrer aus Ostanatolien. Dieser Anfang macht schon deutlich, dass es sich – auch in der Türkei – um kein gewöhnliches Verbrechen handelt und ist tatsächlich der Auftakt für eine verwirrende Handlung und damit komplizierte Nachforschung. Can, ein plötzlich auftauchender Freund des Opfers, der seinen Freund besuchen will, ist ein ausgezeichneter Kenner dieser Religion. Von ihm führt die Spur zu einem Antiquar, der auch Süryani ist und einen Antiquitätenladen im Bedeckten Basar hat. Auch hatte der ermordete Yusuf eine Freundin namens Meryem, die eine Bar in Beyoğlu besitzt und Kontakte zur kriminellen Szene hat. Doch die Bar läuft nicht gut, und Yusuf hatte ihr versprochen, finanziell auszuhelfen. Nevzat, der Kommissar, hat eine griechische Freundin, Evgenia, die eine Weinstube besitzt. Hier wird eine Geschichte eingebaut, die dem Leser in einige der Schwierigkeiten zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen vor Augen führt. Die Istanbuler orthodoxe Griechin hatte sich als junges Mädchen in einen muslimischen jungen Mann eines ostanatolischen Stammes verliebt und war mit ihm in seine Heimat gegangen. Nach einger Zeit fühlte sie sich erdrückt von den Traditionen und Verhaltensweisen der ihr völlig fremden Welt, sodass sie wieder nach Istanbul zurückkehren wollte. Würde sie das gegen den Willlen ihres Mannes tun, hätte sie um ihr Leben fürchten müssen. Sie hatte sich damals an Nevzat gewandt, der gerade in Ostanatolien Dienst tat. Der aber wusste, dass die Rache des Keldani-Stammes bis Istanbul reichen würde. So entschied er, sich mit dem Scheich, dem obersten Geistlichen des Stammes zusammen zu setzen und die sache durchzusprechen. Dieser nahm sich den jungen Mann vor, appellierte an dessen Stolz und Ehre und überzeugte ihn, Evgenia ohne Rachegelüste nach hause zurückkehren zu lassen. Dort übernimmt sie die Weinstube ihres Vaters. Inzwischen wird ein Mann auf der Strasse erschossen, der ein paar Tage zuvor Streit mit Yusuf hatte. Tonguç, einer von Meryems Leibwächtern, stellt sich und gibt Notwehr vor. Der Ermordete war PKK-Anhänger, und Nevzat fragt, was ein Kurde, wenn er das war, mit einem Christen, Yusuf, zu tun haben und mit ihm in Streit geraten sollte. Ihm geht dabei durch den Kopf, wie viele Armenier, Süryani, Griechen usw. in Ostanatolien unter dem Druck der türkischen Nationalisten, Religion und Namen gewechselt haben, und man nie über den Ursprung eines Menschen sicher sein kann. Hier setzt nun eine Geschichte ein, die voller Rätsel von ungelösten Identitäten ist.

Schritt für Schritt klären die Polizisten auf, welche Identität hinter verschiedenen Personen steckt, die in der Handlung eine wichtige Rolle spielen, und was die Gründe für die Annahme falscher Identitäten sind. Bereits im ersten Drittel des Romans macht ein Beamter die passende Bemerkung: “Mann, oh Mann, hier geht es ja zu wie in einem amerikanischen Gangsterfilm.“

Aber obwohl es im Roman sehr lebhaft zugeht, hat er nichts von den unmotivierten Gewaltszenen eines Gangsterfilms. Realistisch zeigt er z.B. wie ein Verdächtiger zu einem Geständnis gebracht wird, indem man ihm besseren Wissens eine PKK-Zugehörigkeit unterstellt, was man psychologische Folter nennen könnte. Noch wesentlich weiter entfernt sich das Buch vom Gangsterfilm, wenn durch geschickte Einflechtungen der Leser mit der frühchristlichen Religion der Süryani vertraut gemacht wird. In diesen Passagen steckt eine Menge Recherche. Die Aufdeckung der falschen Identitäten setzt ein, als der Autopsiebericht kommt, der besagt, dass der ermordete Yusuf beschnitten war, also kein Süryani, sondern ein Muslim war. Jede neu aufgedeckte Identität, die bis in die höchsten Polizeiränge reicht, bringt nun für den Leser Überraschungen mit sich. Es wird mit der Zeit immer deutlicher, dass der Komplex um die Süryani nur eine Nebenrolle spielte, die von den kriminellen Aktivitäten der Sicherheitsdienste bei der Auseinandersetzung mit den Kurden ablenken sollte.

Diese Bemerkungen könnten den Eindruck erwecken, dass es sich bei Ümits Werken um türkische Politthriller handelt. Jedoch haben alle Romane zwei Eigenschaften: 1. Die beschriebenen Probleme sind universeller, ja oft allgemein-menschlicher Art und 2. Die Bücher erfüllen alle Anforderungen des Kriminalromans, in dem die Tat, also das zu lösende Rätsel vorkommt, der Aufklärer und seine, ab und zu in die Irre führende Tätigkeit und schließlich die überraschende Lösung.

Diese Forderungen erfüllen auch die Kriminalerzählungen, die Ümit in zwei Bänden veröffentlicht hat: Agatha´nn Anahtar (Agathas Schlüssel,1998) und Şeytan Ayrntda Gizlidir (Der Teufel verbirgt sich im Detail, 2002; wird z.Z. ins Deutsche übersetzt und soll im Frühjahr 2008 erscheinen). Typisch für seine Erzählungen ist, dass sie die Eigenschaft von „Kurz-Kurzromanen“ haben, was heissen soll, dass sie den gesamten Handlungsverlauf der Aufklärung einschliesslich von falschen Fährten enthalten. Das Tempo des Erzählens ist schnell, was durch kurze Sätze, also auch unkomplizierte Satzstrukturen und wortkarge Dialoge erreicht wird. Die Titelgeschichte des ersten Bandes geht auf eine wahre Begebenheit zurück, nämlich den Besuch Agatha Christies in Istanbul, ihrem Aufenthalt in dem berühmten Pera Palas Hotel, wo ihr ein Schlüssel abhanden kam. Alle Erzählungen zeichnen sich dadurch aus, dass die Protagonisten keine Kriminelle sind, sondern durch widrige, teilweise komische Umstände zu Tätern wurden. Es handelt sich in fast allen Fällen um tragikkomische Gestalten, wodurch die Erzählungen sich von Ümits Romanen unterscheiden, in denen Komik nicht zum Tragen kommt.

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Ümit sich auch Themen gewidmet hat, die mit Kriminalliteratur nichts zu tun haben, wie z.B. Märchen und ein Roman in der Form eines hethitischen Epos´.

Ein kurzer Blick auf weitere kriminelle Autoren

1999 beginnt dann Celil Oker seine Kriminalromane zu veröffentlichen, die wieder einen Serien-Detektiv zum Helden haben. Dieser ermittelt in Istanbul, weist auch Anzeichen auf, die ihn als Mitglied der „hard boiled school“ auszeichnen könnten, bleibt aber doch als Persönlichkeit recht konturlos. Neben Oker haben mehrere Autoren Kriminalromane vorgelegt, die inhaltlich und stilistisch sehr unterschiedlich sind, so z.B. Hasan Doğan, Rdvan Akar, Mehmet Murad Somer oder Esmahan Aykol.

Letztgenannte könnte dem deutschen Leser bekannt sein. Von der Ausbildung her Rechtsanwältin, lebt sie in Istanbul und Berlin und in ihren bisher erschienenen drei Kriminalromanen, die auf Türkisch und Deutsch erschienen sind, gibt sie sowohl den Türken wie den Deutschen ein paar Kopfnüsse, die beide zum Denken anregen sollen. In allen drei Bänden spielt eine junge deutsche Frau, die in Istanbul einen Buchladen für Kriminalliteratur hat, die Hauptrolle als Detektivin.

Hasan Doğans Roman behandelt Landstreitigkeiten im türkischen Teil Zyperns, und Rdvan Akars einziger Roman beschäftigt sich mit einem Mord, der im Zusammenhang mit Zahlungen aus Hitler-Deutschland an die Türkei steht, die zum Aufbau…nein, vielleicht wird das Buch ja doch noch übersetzt. Jedenfalls haben sich diese beiden Autoren historischer Themen angenommen.

Mehmet Murad Somers ( bisher) drei Romane sind in mancher Hinsicht ungewöhnlich. Sie spielen ausschließlich im Milieu der Transvestiten Beyoğlus, wobei der Protagonist/die Protagonistin Besitzer/in eines Nachtclubs ist, in dem die Transvestiten verkehren und wo diejenigen, die als Prostituierte arbeiten, ihre Freier treffen. Ein besonderes Charakteristikum dieser Romane ist auch, daß der Chef/die Chefin ein As auf dem Computer ist, der zur Lösung der Verbrechen fleißig eingesetzt wird. Diese Bücher verkaufen sich gut, was wohl nicht nur auf den flotten Schreibstil zurückzuführen ist, sondern auch auf den zuweilen etwas erhitzenden Inhalt.

Ganz anderer Art sind die Kriminalromane Ismail Güzelsoys. Güzelsoy ist insofern ein besonderer Autor, als daß er inhaltlich literweise Blut vergießen, Gliedmaßen abschneiden und Knochen brechen kann, und dabei einen Stil schreibt, der künstlerisch hochwertig ist und oft geradezu lyrisch schön. Dieser künstlerische Stil Güzelsoys steht in engem Zusammenhang mit einer anderen Kunst, nämlich der graphischen Gestaltung, die der Autor auf der Kunstakademie studiert hat. So hat er auch die Einbände der ersten beiden Bücher seiner Trilogie selbst gestaltet und Preise dafür bekommen. In Güzelsoys graphischer Arbeit ist das filigrane Element dominierend. Die Liebe des Autors zu seinem gelernten Beruf (den er übrigens teilweise in Schweden studiert hat) wird auch inhaltlich deutlich, und zwar in einem seiner Protagonisten, einem genialen Geldfälscher, der durch die tagelange Analyse eines Geldscheins sieht, fühlt und erschnüffelt, wer was, an welchem Ort mit dem Geld erworben hat. Leider ist keiner seiner Romane bisher ins Deutsche übersetzt worden.

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Abgesehen von den wenigen Vorläufern hat sich das Genre des Kriminalromans bzw. der Kriminalerzählung in der kurzen Zeit von einem Jahrzehnt zu einer voll ausgereiften Gattung entwickelt, die es mit dem nicht-türkischen Krimi problemlos aufnehmen kann. Ob ein Leser mehr Wert auf literarisch anspruchsvolle Werte legt oder ein anderer vor allem spannende Unterhaltung verlangt, beiden Lesern wird die türkische Kriminalliteratur gerecht. Aus diesem Grunde, und nicht nur wegen des Umfangs des Werkes von Ahmet Ümit spielt dieser eine besondere Rolle in der modernen türkischen Literatur. Die Vielseitigkeit seines Werkes, in der er seine Leser mit der politischen Landschaft seines Landes, den Minderheiten und nicht zuletzt der Geschichte konfrontiert, ist einerseits spannend und andererseits vermittelt sie Wissen. Und nicht zuletzt sollte sein Verständnis für die menschlichen Schwächen erwähnt werden, wie es in hier vorgelegten Erzählungen zum Ausdruck kommt.

Zu einer ausführlicheren Darstellung der türkischen Kriminalliteratur verweise ich auf den artikel: Scharlipp,Wolfgang: Origin and Development of Turkish Crime Fiction. In: Readings in Eastern Mediterranean Literatures (eds. K.Eksell, L.Feldt). Ergon Verlag, Würzburg 2006, S. 189-219.